“Top Girls” – Grenz-Echo Bericht

Top Girls

Von Caryl Churchill
Deutsch von Heidi Zerning
Regie: Günther Lorreng

Aufführungen in Hauset
Samstag, den 30. Januar 1999
und Sonntag, den 31. Januar 1999

Grenz-Echo vom 4. Februar 1999

Dreistündige Inszenierung überzeugte

Theater Gaudium hat es sich nicht leicht gemacht

Keine leicht verdauliche Kost ist es, an die sich das Theater Gaudium in Hauset unter Regie von Günther Lorreng für die aktuelle Inszenierung „Top Girls“ herangewagt hat. Vor ausverkauftem Haus bot die Gruppe zur Premiere am vergangenen Wochenende eine reife Leistung, was Schauspiel und Spielfluss betrifft, und hielt das Publikum mit einem kritischen wie unterhaltsamen Stück über Frauen und Erfolg drei Stunden lang bei Laune.

Sechs Frauen treffen sich in einem Londoner Restaurant, um die Beförderung von Marlene in der Stellenvermittlungsagentur „Top Girls“ zu feiern. Zum Teil sind sie weit gereist, aus fernen Zeiten und fernen Ländern: Isabella lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Edinburgh und bereiste die ganze Welt. Die Dame Nijo war im 13. Jahrhundert Maitresse des japanischen Kaisers und zwanzig Jahre lang als buddhistische Nonne in Japan unterwegs. Die tolle Grete entstammt einem Bild von Brueghel und hat in Ritterrüstung eine Frauenschar beim Sturm auf die Hölle angeführt. Johanna war als Mann verkleidet zwei Jahre lang Papst. Und die geduldige Griselda ist eine literarische Figur, die eine höchst ungewöhnliche Ehe führte.

Gemeinsamkeit
Dass die sechs Ladies sich in ihren Leben, ihren Erfahrungen und Wertvorstellungen nicht gerade gleichen liegt auf der Hand. Und doch ist ihnen eines gemeinsam, wie sich im Verlauf des Gesprächs über Gott und die Welt und natürlich ihre Liebhaber herausstellt: Sie alle sind ungewöhnliche Frauen mit einem ungewöhnlichen Lebenslauf. Der Wein fließt in Strömen und die Konversation wird von Flasche zu Flasche immer deutlicher… und damit das Schauspiel immer schwerer. In einem sehr textlastigen, aber nicht überlasteten ersten Teil werden die acht Schauspielerinnen auf eine harte Probe gestellt, die sie jedoch mit Bravour bestehen.

Karrierefrau Marlene

Die verbleibenden vier Szenen spielen allesamt im „Heute“, d.h. konkret im Großbritannien der achtziger Jahre. Gastgeberin Marlene hat sich in der Stellenvermittlungsagentur „Top Girls“ gegen einen männlichen Konkurrenten bei der Bewerbung um die stellvertretende Geschäftsführung durchgesetzt. Nur: Zugunsten der Karriere hat sie ihre Familie beiseite gelassen und Tochter Angie die Tante Joyce, Marlenes Schwester, als Mutter verkauft. Angie wächst in beengten, ländlichen mit düsteren Zukunftsaussichten auf.

Frauenmodelle

Nach dem Dinner der historischen, fiktiven Frauengestalten im ersten Akt wechseln die Akteurinnen ihre Rollen. Neben der familiären Situation von Marlene gewährt der zweite Akt Einblick in die Stellenvermittlungsagentur. Und die Frauen, die dort arbeiten bzw. die dort vorstellig werden, um einen Arbeitsplatz zu finden, spiegeln die gesellschaftliche Situation von Frauen im London der achtziger Jahre. Wie auch ihre Vorgängerinnen bieten sie den Zuschauern verschiedene „Frauenmodelle“: Die Ehrgeizige, die Selbstbewusste, die Verbitterte, die Weinerliche, … Nach der dreistündigen Vorstellung hat der Zuschauer so ein ganzes Dutzend verschiedener Frauen vor Augen, die – jede für sich genommen – jede Menge Fragen aufwerfen, wobei eines klar ist: Welche es „richtig“ oder „falsch“ macht, ist sicherlich zu diskutieren.

Reife Leistung

Alleine von der Textmasse her mussten die Schauspielerinnen des Theater Gaudium bei den Aufführungen am vergangenen Wochenende „top“ in Form sein. Und es ist schon bemerkenswert, dass hier ohne den Einsatz von Souffleusen wohlgemerkt, kein einziges Mal gestottert wurde. Doch „Top Girls“ ist kein Texttheater… im zweiten Akt gibt es sehr viel Bewegung, so dass der Zuschauer sich keineswegs erschlagen fühlt.
Auch – und gerade – die schauspielerische Leistung gilt es, nicht zu unterschätzen: Trotz des Rollenwechsels bleiben die Akteurinnen in der Darstellung glaubwürdig und überzeugend. Und nicht zuletzt sei der Regie ein Kompliment ausgesprochen, da der Spielfluss trotz der sehr komplexen Handlung überschaubar und ansprechend blieb.
Die Zuschauer in Hauset erlebten jedenfalls einen unterhaltsamen wie lehrreichen.

Theaterabend, mit einem gesellschafts- und letztlich sogar sozialkritischen Thema, in dem auch der Humor einen wichtigen Platz einnahm. Der Jury gefiel es ebenfalls und sie bestätigte dem Theater Gaudium die Einstufung in die Ehrenklasse.

PF